Die Differenz berechnen

Extrahiert aus The Zen Teaching of Homeless Kōdō
English version: Calculating the Difference

By TJBlackwell [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

KODO SAWAKI:

Als ich während des Zweiten Weltkrieges ein Kohlenbergwerk in Kyushu besuchte, durfte ich in die Grube absteigen. Ich setzte mir so wie die Grubenarbeiter einen Schutzhelm mit Leuchte auf, und fuhr mit einem Aufzug den Schacht hinunter. Eine Zeit lang dachte ich mir, dass der Aufzug recht schnell hinabfuhr. Dann fühlte es sich so an, als ob ich hinauffuhr. Ich schien meine Leuchte auf den Schacht und mir wurde klar, dass der Aufzug noch immer hinab fuhr. Wenn ein Aufzug mit zunehmender Geschwindigkeit hinabfährt, dann fühlen wir, wie es nach unten geht, aber wenn die Geschwindigkeit gleich bleibt, dann fühlt es sich so an, als ob der Aufzug hinaufginge. Das Gleichgewicht verschob sich. Im Auf und Nieder des Lebens werden wir von der Differenz des Gleichgewichts betrogen.

“Ich hatte Satori!” heißt lediglich, eine Differenz des Gleichgewichts zu spüren. “Ich bin irregeführt!” heißt, noch eine zu spüren. Essen köstlich oder grauenhaft zu finden, reich oder arm zu sein, das sind alles lediglich Empfindungen von Gleichgewichtsverschiebungen.

Mit unserer normalen Denkweise ziehen wir zumeist nur Differenzen des Gleichgewichts in Erwägung.

Die Menschen setzen das Ich allem voran, ohne sich dessen bewusst zu sein. Manchmal sagen wir „Das war echt gut!“ Wozu ist es gut? Es ist bloß für mich gut, sonst nichts.

Meistens erwarten wir uns für unsere Taten einen persönlichen Gewinn. Und wenn das
Resultat anders ist, als unsere heimliche Agenda es vorsah, dann fühlen wir uns
enttäuscht und erschöpft.

KOSHO UCHIYAMA:

Glück oder Unglück sind immer unsere Hauptanliegen. Aber gibt es in Wirklichkeit Glück und Unglück? Nein. Es gibt nur Berechnungen, für welche wir unsere Erwartungen als Maßstab benutzen. Genau deshalb, weil wir uns erwarten von allem zu profitieren, tut es uns leid, wenn es nicht so kommt. Nur deshalb, weil wir mit anderen wetteifern, erleben wir den Unterschied zwischen unseren Erwartungen und der Wirklichkeit als Niederlage.

Echte Religion hat mit dem menschlichen Bedürfnis nach Profit oder Messungen zwischen Erwartungen und Erlebnissen nichts zu tun. Es ist menschlich, Erwartungen zu haben, aber ihnen nachzuhängen führt zum Leiden. Wenn wir uns von den Erwartungen loslösen können, und uns auf egal welcher Seite des Gleichgewichts, auf der wir uns gerade befinden, niederlassen können, dann finden wir unerschütterliche Zufriedenheit, und ein wirklich stabiles Leben beginnt. Durch Zazen hört man auf, ein Mensch zu sein, der ständig Gewinn und Verlust erwägt, und das Leben solchen Berechnungen nach bewertet. Zazen praktizieren heißt, kein gewöhnlicher Mensch mehr zu sein.

SHOHAKU OKUMURA:

Wir Menschen haben die Fähigkeit über Dinge zu denken, die nicht vor unseren Augen sind.

In unseren Gedanken erfinden wir Geschichten, in welchen wir immer der Held oder die Heldin sind. Wir bewerten, was in der Vergangenheit geschah, wir analysieren unsere gegenwärtigen Umstände, und wir nehmen vorweg, was in der Zukunft passieren soll. Das ist eine wichtige Fähigkeit, aufgrund welcher wir Kunst erschaffen, Geschichte studieren, und Zukunftsvisionen haben. Ohne ihr könnten wir Gedichte oder Filme weder schreiben noch genießen. Beinahe die gesamte menschliche Kultur ist davon abhängig Dinge zu sehen, die nicht vor unseren Augen sind.

Das bedeutet, dass beinahe alle Kultur erdichtet ist. Unsere Fähigkeit, solche Dichtungen zu erschaffen, ist die Wirklichkeit unserer Leben. Ohne ihr können wir nicht leben. Aber diese Fähigkeit führt zu vielen Problemen. Wir haben von unseren Geschichten gewisse Erwartungen. Wenn alles so läuft, wie wir es uns erwarten, dann fühlen wir uns wie Himmelswesen, aber wenn nicht, dann sind wir in der Hölle. Oft begehren wir mehr und mehr, ohne jemals befriedigt zu sein, wie hungrige Geister.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht unser Leben ist, das Leid verursacht, sondern unsere Erwartung, das Leben müsse so sein, wie wir es wollen. Wir können ohne Erwartung nicht leben, aber es ist Erlösung, die Gefühle, welche von dem Unterschied zwischen unseren Erwartungen und der Wirklichkeit verursacht werden, bewältigen zu können.

Zazen praktizieren, so wie es Dogen Zenji, Sawaki Roshi und Uchiyama Roshi lehrten, heißt vom Bildschirm unserer Geschichten eine Pause einzulegen und uns auf den Boden der Wirklichkeit, welche vor unserer Vorstellungskraft existiert, zu setzen. Wenn wir von unserer erdichteten Welt nicht hereingelegt werden, dann können wir von den Geschichten, die wir erfinden, lernen und sie genießen.

© 2014 Shohaku Okumura. All rights reserved.

Image by TJBlackwell [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

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